Bonuskapitel: Anne-Liese im Hubschrauber (ehem. Kap. 7 in "Steinschlag", dem ersten Buch des Weichenstellers)
Hinweis: Dieser Text ist trotz seines netten Anfangs eher "theoretisch", eine Skizze grundlegender Gedanken zu Staat und Bürger, Gewaltmonopol und Terrorismus. Für den politischen Kontext des Weichenstellers sind die aufgeworfenen Probleme sehr wichtig. Doch im Roman hemmte das Kapitel die Handlung. Wer also Lust auf Action hat, lese nicht weiter. Wer sich dafür interessiert, wie die Welt tickt, schon.
Anne-Liese musste verträumt lächeln, als ihr beim Steigflug über dem GTAZ einfiel, wie sie Christina und Andreas erklärt hatte, wie Helikopter fliegen ist: Sie hatte ihnen die Fahrradhelme aufgesetzt und sie aufgefordert, sich draußen auf den Rasen zu legen.
«Und jetzt?» fragt Andreas.
«Jetzt macht ihr beide die Augen zu!»
«Nicht so fest, nicht zusammenkneifen. Augen zu so, wie wenn ihr schlaft.»
Es dauert ein paar Sekunden, bis die Gesichter der Kinder sich entspannen.
«Und jetzt?» fragt Christina.
«Jetzt stellt ihr euch vor, dass ihr Fahrrad fahrt. Volle Pulle! Aber Augen zu! Habt ihr's?»
Die Kinder konzentrieren sich wieder ein paar Sekunden, bevor Christina ruft: «Jaaa!» und Andreas: «Aaauuu, ich fahr' saaauuuschnell!»
«So, und jetzt stellt ihr euch vor, dass ein Monsterstaubsauger euch nach oben in die Luft zieht, während ihr selber weiter nach vorne fahrt! Aber genauso schnell wie vorher, nicht langsamer!»
«Uuiii, das kitzelt im Bauch», kichert Christina, während Andreas nur ein «Coooool!» hervorbringt.
«Na, dann fliegt mal schön, aber kommt zum Abendessen wieder. Ich geh' jetzt rein zu Papa» sagt Anne-Liese …
... und riss sich, als der Hubschrauber Reiseflughöhe erreicht hatte, los aus den Erinnerungen an glückliche Tage. Sie flog nicht zum Privatvergnügen, sie hatte sich auf ihre Aufgabe vorzubereiten. Dass die BKA-Abteiliung Polizeilicher Staatsschutz ausgerechnet in Meckenheim-Merl, einem ehemaligen Dorf von 5500 Einwohnern, angesiedelt ist, ist angesichts der nur 14 Kilometer Entfernung zur alten Bundeshauptstadt Bonn verständlich, lag es doch schon vor der Wende dort. Dass ein gewisser Innenminister Otto Schily die Abteilung dann 2004 eigentlich nach Berlin verlegen wollte, konnte man auch verstehen, ohne weiter nachdenken zu müssen. Ebenso, dass Einwohner und Lokalpolitiker damals dagegen waren. Das BKA Meckenheim ist mit seinen 1000 Angestellten einer der wichtigsten Arbeitgeber der Kleinstadt. Schwerer zu verstehen ist, wie sie es geschafft hatten, die Oberhand gegen den Bundesminister zu behalten und so organisatorisch die kriminalistische Abwehrkraft der gesamten Republik zu schwächen. Und was hatte wen wann bewogen, die ursprüngliche Adresse Paul-Dickopf-Str. 2 mit dem 25. Juni 2012 zur Gerhard-Boeden-Str. 2 werden zu lassen?
Es gehörte seit langem zum BKA-Gemunkel, dass die Spitze der Behörde bis in die 70er Jahre hinein von alten Nazis dominiert war. In der Tat war sie von solchen aufgebaut worden. 1958 waren 33 von 47 Spitzenpositionen im BKA von früheren SS-Männern besetzt. Paul Dickopf war einer von ihnen, zudem als späterer BKA-Präsident seit 1965 sogar Doppelagent für die CIA. Trotzdem starb er 1973 hochgeehrt und als «Vorbild für die gesamte deutsche Polizei». Als dieses und mehr kurz nach der Jahrtausendwende ans Licht einer breiteren Öffentlichkeit kam, dauerte es noch weitere 10 Jahre, bis Paul Dickopf verschwand und Gerhard Boeden erstand im Straßengedächtnis des BKA.
Die Zähigkeit der Aufarbeitung dieser Vergangenheit warf für Anne-Liese auch Licht auf die Verschleppung der frühen BKA-Erkenntnisse zu den späteren NSU-Morden. Nicht, dass sie konkrete Verdachtsmomente dafür hatte, dass der Staatsschutz noch ein brauner Sumpf war. Doch mit welcher Art Menschen sie es in der Behörde so oft zu tun hatte, machte das klar: Leute, die für ihre Identität ein Feindbild brauchen, Leute, deren Selbstbild man zerstört, wenn man ihnen den Feind nimmt oder auch nur woanders hinstellt. Deshalb wollten sie nicht in andere Richtungen schauen als die, in die sie immer geschaut hatten. In dieser Richtung stand nun mal kein NSU – und in dieser Richtung stand auch keine Umweltbewegung.
Der Fall, den sie übernehmen sollte, störte also das klare Feindbild, das man beim GTAZ wie im GETZ offensichtlich vorzog, das man vielleicht sogar brauchte, um einer so uneinheitlichen Organisation überhaupt eine Art geistigen Zusammenhalt geben zu können: Früher waren es die Kommunisten gewesen, jetzt waren es die Islamisten. Umweltschützer passten nicht in dieses Bild, machten es zu kompliziert. Die waren zwar schon irgendwie links, aber eben doch nicht so richtig, Spinner halt, die in Birkenstocksandalen durch die Gegend latschen und in Öko-Läden einkaufen, Leute, die man nicht ernst zu nehmen braucht und doch außerdem in der Mitte der Gesellschaft angekommen waren.
Und die Kommunikation zwischen Verfassungsschützern und Polizei war in der Vergangenheit oft mühsam gewesen. Die ersteren wussten oft mehr als die letztere und gaben nicht unbedingt ihre Informationen in vollem Umfang weiter. Das war damals, als sie noch in der Ausbildung war, bei dem GSG9-Fiasko in Bad Kleinen so gewesen, das war bei der NSU-Geschichte so, und möglicherweise jetzt auch. Wer konnte wissen, was in zehn oder zwanzig Jahren irgendwelche Journalisten zu Tage fördern und dann ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss wieder einmal bestätigen würden?
Wenn Anne-Liese in ein paar Stunden ihren Kollegen vorgestellt würde, würde sie diese also mit Samthandschuhen anfassen müssen. Nicht die Spur eines Vorwurfs durfte sie diese spüren lassen. Sie musste mit ihnen die völlig Überraschte spielen, ihnen gleichzeitig erklären, warum sie von Berlin aus eingeflogen worden war und ihre Analyse der Situation so einfließen lassen, dass die anderen sie schluckten, ohne dass sie sich ihr dabei unterlegen fühlten. Männer vertragen kein Unterlegenheitsgefühl, besonders nicht gegenüber Frauen, das macht sie zu Gegen-, nicht zu Mitspielern. Hoffentlich erwies Anne-Lieses Spitzname ihr in Meckenheim denselben Dienst wie am GTAZ in Berlin.
Diese Gedanken beschäftigten Alice, während der Eurocopter C 135 T2 der Berliner Landespolizei den leicht südwestlichen Kurs in Richtung alte Bundeshauptstadt aufgenommen hatte. Als sie das Doppel-Wahrzeichen Magdeburgs Dom und Elbe erblickte, kramte sie endlich aus der Laptop-Tasche ihre Ausdrucke heraus und wandte sich dem Erpresserbrief zu:
«Wie in den Medien vielfach berichtet ...
Die Kollegen würden sicher, bis sie eingetroffen war, gecheckt haben, ob die gemachten Angaben richtig waren
Das internationale Aktionsbündnis Climate Action Now!, Sektion Deutschland … Nicht ohne symbolhafte Ironie …. Wir haben damit gezeigt, dass wir der Bundesrepublik Deutschland und ihrer Bevölkerung erheblichen Schaden ... Wir bedauern diese Opfer ... sahen uns ... gezwungen, nachdem auch deutsche Politiker ... Die Folgen des Klimawandels … Extremwettersituationen ... deutliche Sprache auch in Deutschland. Der von der deutschen Politik ... mitverursachte Klimawandel ... Millionen in tödliche Gefahr ... Auch in Deutschland … 33 unschuldige Todesopfer und 58 Verletzte … sagen klar, dass diese Menschen … Recht auf Leben hatten. Wir sagen aber ebenso klar, dass die kommenden millionenfachen Opfer des Klimawandels, mitverursacht durch deutsche Politik, … ein Recht auf ihr Leben haben. .... Wir hoffen daher inständig ... Deutschland aufzurütteln.
Das passte alles genau in die Erwartungen, die Anne-Liese seit Jahren gehabt hatte. Gemeinsam mit anderen Terroristen war diesen Tätern, dass sie sich auf ein höheres moralisches Gesetz als das jederzeit geltende staatliche Recht beriefen. Das war allgemein anerkannte kriminalistische Lehre. Ganz wenige verstanden aber bisher, dass in einem modernen Staat tatsächlich jeder gewissenhafte Bürger ein potenzieller Terrorist ist, und zwar gerade, wenn man seine Gewissenhaftigkeit voraussetzt.
Denn jeder Staat spiegelt in seiner Gesetzgebung- und Handhabung immer nur unvollkommen die grundlegenden moralischen Prinzipien, die das Zusammenleben der Menschen regeln sollen, wider. Was als erträglich unvollkommen und was als unerträglich unvollkommen gelten kann, das kann aber zuletzt nur der einzelne Bürger entscheiden. Das in sich unvollkommene Gemeinwesen hat keine eigene, keine größere moralische Legitimität, ihm vorzuschreiben, wann die Grenze zur Unerträglichkeit für ihn überschritten ist. Dem Bürger bleibt dann, wenn er nicht auswandern kann und wenn alle gewaltfreien Mittel versagen, nur die Auflehnung gegen das staatliche Gewaltmonopol übrig, mit dem das Gemeinwesen die jeweils geltenden Normen schützt. Diese Auflehnung muss dann konsequenterweise selber gewalttätig sein – und aus einem unbescholtenen, gewissenhaften Bürger wird im Extremfall ein Terrorist. Was den Staat, so wie er war, am meisten schützte, waren denn auch kein Bundesverfassungsschutz und kein Bundeskriminalamt, sondern der Umstand, dass die allermeisten Menschen sich solch grundsätzliche Erwägungen kaum machen oder, wenn sie es doch tun, vor deren allerletzten Konsequenzen zurückschrecken.
Im aktuellen Falle waren Umweltschützer nun nicht mehr zurückgeschreckt. Sie hatten Konsequenzen gezogen, weil die Grenze zur unerträglichen Unvollkommenheit für sie erreicht war. Jahrzehnte friedlicher Demonstrationen und spektakulärer, aber gewaltfreier Aktionen hatten angesichts der ebenso schleichenden wie beschleunigten Verschlechterung der natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen nicht weit genug geführt. Die vielen Extremwettersituationen des letzten Jahrzehnts lasen sie als deutliche Anzeichen und Vorboten dessen, was sie zu erwarten und wovor sie immer gewarnt hatten. Einschneidende Maßnahmen brauchten 10-15 Jahre, damit sie greifen konnten. Um diese zu beschließen und umzusetzen brauchte es zusätzliche 10-15 Jahre, und zwar vorher. Das hieß: Wer die Menschen in Deutschland etwa ab dem Jahre 2040 so schützen wollte, wie man sie überhaupt noch schützen konnte, der hatte überhaupt keine Zeit mehr, der musste jetzt handeln. Die Politik hatte das zu lange zu zögerlich getan und tat es immer noch völlig unzureichend. Darum griffen diese Umweltschützer nun zum letzten Mittel, das sie hatten: Zur Gewalt.
Und wie konsequent asymmetrisch, geschichtsironisch steinzeitlich die war! Diesem Gegner würde mit den Mitteln des hochtechnologisierten BKA kaum beizukommen sein: Steine gab es überall, ließen sich nicht verbieten, nicht kontrollieren. Waren diese Terroristen entschlossen genug, waren oder würden diese Täter viele genug – es brauchte vielleicht zwei Dutzend – es gab kein polizeiliches Mittel, sie aufzuhalten. Nur dass sie möglicherweise wirklich wenige waren und wirklich wenige blieben, gab die Hoffnung, dass man ihrer habhaft werden konnte.
Wenn der Staat denn angesichts dieser Bedrohung nicht einlenken und von sich aus den Frieden wieder herstellen wollte? Den Umweltschutz in Artikel 1 des Grundgesetzes aufnehmen, Beschäftigung der Parteien mit umweltfreundlichen Wirtschaftsformen, allgemeine Mobilitäts-abgabe, waren das Forderungen, mit deren Erfüllung sich überhaupt nicht leben ließ?
Aber der Staat durfte sich doch nicht erpressbar zeigen! Dann konnten die nächsten Terroristen für blaue Meerschweinchen Steine von Brücken zu schmeißen beginnen, die wahnsinnigsten Forderungen ließen sich sonst auf diese Weise stellen und durchsetzen. Das Gewaltmonopol des Staates musste unter allen Umständen verteidigt werden.
Unter allen? Was wenn dieser Rechtsstaat schleichend ein Unrechtssaat zu werden begonnen hatte, indem er die zukünftigen Lebensbedingungen vieler seiner Bürger nicht mehr ausreichend schützte? Wann wurde von wem entschieden, ob dies der Fall war oder nicht? Wer wusste denn, wer und wie viele wo und wann und wie stark vom nächsten Hochwasser, von der nächsten Hitze- oder Kältewelle betroffen sein würde? Dass diese Entwicklungen mit dem politischen Zaudern der vergangenen Jahrzehnte, mit dem Kuschen der Politik vor der Wirtschaft zusammenhingen, war ja eindeutig. Konnten also die, welche in der Position dazu und mit weit größeren Sicherheiten ausgestattet waren als viele von denen, über die sie zu entscheiden hatten, mit Recht diejenigen sein, die die Grenzen zwischen Richtig und Falsch zu ziehen hatten? Was man am eigenen Körper fühlt oder nicht; wozu man Empathie und Verstand hat oder nicht! Genau das war ja das Problem der erträglichen oder unerträglichen Unvollkommenheit.
Das ganze Dilemma großer Industriegesellschaften des Jahres 2016, die den sie bewohnenden Menschen einen bisher historisch völlig einmaligen Wohlstand und geschichtlich nie dagewesene Freiheit und Sicherheit boten, trat in diesem Fall plötzlich zu Tage. Und Anne-Liese saß ebenso plötzlich mittendrin. Es gab keinen richtigen Weg mehr, nur zwei falsche. Diesen Terroristen nachzugeben war falsch. Das wusste die Polizistin und das wusste die Ex-DDR-Bürgerin, die einen Unrechtsstaat noch erlebt hatte, bis in ihr Innerstes. Diesen Terroristen nicht nachzugeben, zumindest nicht entgegenzukommen, war aber auch falsch. Das wusste die Umweltschützerin mit jeder Zelle ihres informierten Verstandes und die Mutter, die ihren Kindern noch relativ sichere natürliche Lebensgrundlagen hinterlassen wollte, mit jedem Schlag ihres Herzens. Würde sie die Täter zu fassen bekommen, was nun einmal ihr Job war, würde dies ein umweltpolitisches Weiter so, ein weiteres Abschmelzen der natürlichen Lebensgrundlagen bedeuten. Bekam sie sie hingegen nicht, konnte dies der Beginn der Erosion des Rechtsstaates sein, den sie ihren Kindern ebenso gönnte wie sich selbst.
Und wenn sie sich weigerte? Hoffkamp hatte ihr nicht gerade die Qual der Wahl gelassen. Wenn sie in Meckenheim angekommen erklärte, sie habe nachgedacht, sie sei nicht die richtige für den Job? Zwingen konnte sie niemand, das wusste Anne-Liese. Aber wenn nicht sie sich dieser Verantwortung stellte, wer sollte es dann tun? Irgendjemand musste es, also konnte sie ebenso gut bei der Stange bleiben. Ihre Drecksarbeit andere erledigen zu lassen war noch nie Anne-Lieses Sache gewesen. Die Polizistin sah aus dem Helikopter auf die Landschaft, die unter ihnen dahin und ihr die Gedanken aus dem Kopf zog. Und ein subversiver Mittelweg begann, sich ihr aufzutun:
Diese Täter würden mit üblichen polizeilichen Mitteln nicht leicht zu fassen sein, das war jetzt schon klar, der Fall konnte sich sehr wohl über Wochen und Monate hinziehen. Jeder Kollege verstand das sofort. Ein winziger, kaum beobachtbarer Fußtritt genügte, um einen Stein von einer Autobahnbrücke auf ein Fahrzeug fallen zu lassen. Platzierten die Täter ihn vorher mit Handschuhen und Nachts am Rand einer Brücke – das täte jedenfalls Anne-Liese anstelle der Terroristen - würde es nicht die kleinste DNA-Spur, keine Fingerabdrücke, keine belastbare Zeugenaussage geben. Welche Möglichkeiten hatte die Polizei dann? Keine!
Angenommen, die Hauptverdächtigen würden sich schnell identifizieren lassen, dann mussten sie trotzdem erst gefunden, beschattet, um der Beweisbarkeit willen bei der Tat gefilmt werden. Die aber musste man ja dann verhindern, indem man die Täter direkt festnahm, wofür es dann wiederum keine ausreichende Beweisgrundlage geben würde. Es sei denn, man hatte Gespräche abgehört, elektronische Kommunikation entsprechenden Inhaltes gesichert, Aussagen von eingeschleusten V-Personen und so weiter. Indizien zu sammeln war also der einzige Weg und würde, wenn diese Täter schlau waren, wovon Anne-Liese auszugehen hatte, dauern, dauern, dauern, über Monate hin ein Patt erzeugen.
Wenn man dann diesen Terroristen zum frühest möglichen Zeitpunkt Gesprächsbereitschaft signalisierte, gewisse Zugeständnisse mit deren Übergabe als Gegenleistung verband, dann würden beide Seiten ihr Gesicht wahren und beide Seiten erreicht haben, was für sie am wichtigsten war. Diese Täter waren keine gewöhnlichen Kriminellen, die waren keine religiösen Fanatiker, die waren keine Menschenhasser, die waren Idealisten, mit denen sich reden ließ, wenn man ihnen diesen Ausweg bot. Dazu musste man natürlich zunächst einmal herausfinden, wer diese Leute waren. Aber das würde ihr schon gelingen. Nicht Identitäten festzustellen, sondern Beweise gegen sie zu sammeln und die Täter dann dingfest zu machen, das würde das zeitfressende Problem werden. Die Zeit aber würde die Akteure mürbe machen, auf beiden Seiten. Das Ergebnis konnten sowohl die Wahrung des Rechtsstaates als auch wirklich wesentliche Fortschritte im Umweltschutz sein. Wenn sie diese Möglichkeit bei ihrer Arbeit im Hinterkopf haben würde, dann …
Und die bis dahin möglicherweise weiteren, Dutzenden von Menschen, die den Terroristen noch zum Opfer fallen würden, was mit denen? Was mit den Familien der Opfer? Durfte sie denn als Polizistin überhaupt mit solchen Gedanken spielen? Was, wenn ihre eigenen Kinder, ihr eigener, immer noch geliebter Mann … Anne-Liese sah ihre kleine Familie als Opfer eines Verkehrsunfalls unter einer Autobahnbrücke vor sich – um Gottes willen, um Gottes willen! Nein, dieser Preis war ihr zu hoch, dieser Preis war einfach zu hoch, die Ziele der Terroristen, so wichtig sie waren, sie mussten sich anders erreichen lassen. Basta, basta, basta!
Sie gab sich einen Ruck, verließ mental den Hubschrauber, stellte sich wie immer, wenn sie etwas mit sich selbst abzumachen hatte, in Gedanken vor ihren Spiegel im Bad, sah und sprach sich dort laut und deutlich an: “Anne-Liese! Anne-Liese Schwartzer! Du bist Polizistin! Als solche hast du eine klare Rolle! An der hältst du dich jetzt fest! Du kannst nicht mit Terroristen sympathisieren, das geht einfach nicht. Dass du diese Leute verstehst, ist gut für deine Arbeit. Aber der Zweck heiligt nicht die Mittel. Niemals! Niemals! Jetzt tust du, was dein Job ist! Ende der Diskussion! Hörst du? Ende der Diskussion! Jetzt guckst du dir dieses Schreiben wirklich genau an und fragst dich, was es dir über die Täter verrät. Ende der Diskussion! Okay? Okay?»
Sie nickte sich zu, blieb aber noch ein paar Sekunden vor dem Spiegel stehen und ließ den Entschluss sacken. Dann kehrte sie in den Hubschrauber zurück. Der Brief enthielt eine Menge wichtiger Details. Ob gewöhnliche Kriminelle oder nicht – auch diesen Tätern war wohl kaum klar, wie viele Spuren sie bereits hinterlassen hatten.